Operiert Chinas Marine bald im Atlantik?
China zeigt Interesse an einer Militärbasis auf den Azoren? Eine merkwürdige Meldung. Der Verdacht drängt sich auf, dass der Hype um Chinas Aufrüstung einen neuen Aufhänger gefunden hat. Doch weit gefehlt. Chinas Interesse am Atlantik wächst.
von Felix F. Seidler.
Felix F. Seidler ist freier Mitarbeiter am Institut für Sicherheitspolitik an der Universität in Kiel und Administrator von Seidlers Sicherheitspolitik. Dieser Artikel wurde dort als erstes veröffentlicht.
Zwischenstopp mit Folgen
Auf dem Rückweg von einer Südamerikareise im Sommer 2012 legte Chinas Premier Wen Jiabao den denkbar merkwürdigsten Zwischenstopp ein. Er landete auf einer amerikanisch-portugiesischen Luftwaffenbasis auf den Azoren. Die dortige Lajes Field Air Force Base steht als eine von vielen auf der Streichliste des Pentagon. In der National Review spekulierte China-Kritiker Gordon C. Chang daraufhin, ob die Zwischenlandung Wen Jiabaos auf der Azoren-Insel Terceaira nicht einen militärisch-strategischen Hintergrund haben könnte:
Terceira, however, has one big attraction for Beijing: Air Base No. 4. Better known as Lajes Field, the facility where Premier Wen’s 747 landed in June is jointly operated by the U.S. Air Force and its Portuguese counterpart. If China controlled the base, the Atlantic would no longer be secure. From the 10,865-foot runway on the northeast edge of the island, Chinese planes could patrol the northern and central portions of the Atlantic and thereby cut air and sea traffic between the U.S. and Europe. Beijing would also be able to deny access to the nearby Mediterranean Sea.
Nun sind Horrorvisionen über Patrouillen chinesischer Flugzeuge im Atlantik völlig fehl am Platz. Wie sollten diese Flugzeuge samt Personal und Equipment dorthin kommen? Und welche Flugzeuge überhaupt? So reich gesegnet ist Chinas Militär mit Langstreckenbombern oder Seefernaufklärern nun auch wieder nicht. Und selbst wenn, warum sollte China Material und Personal, das es im Indo-Pazifischen Raum dringend braucht, ans andere Ende der Welt schaffen? Nun wäre es leicht, aber verfehlt, hier mit der Diskussion über Chinas Rolle und auch chinesische Operationen im Atlantik aufzuhören.
Um im Atlantik Flagge zu zeigen, würde es für China an dieser Stelle völlig ausreichen, den Flughafen und die Häfen für eine, sagen wir mal, „wissenschaftliche Forschungsstation“ zu nutzen. Ähnlich verfahren die Briten und Franzosen in ihren Überseeterritorien. Ganz nebenbei wäre eine solche Station ausgezeichnet für elektronische Spionage (SIGINT) geeignet. Lajes Field AFB wäre als ehemaliger Notlandeplatz für das Space Shuttle evtl. auch für Chinas Weltraumprogramm interessant.
Ins Herz der NATO
Diese neue Entwicklung im NATO-Staat Portugal muss man im Kontext zu Chinas lange laufenden Bemühungen im NATO-Staat Island sehen. Dort kauft sich China seit Jahren in Häfen und Infrastruktur ein, weil man in Peking offenbar langfristig auf eine eisfreie Arktis als Seeweg setzt. Dass China versucht, seine strategischen Interessen innerhalb des Atlantiks und innerhalb von zwei NATO-Staaten durchzusetzen, kann damit nicht mehr von der Hand gewiesen werden. Das – gerade der Plural dabei – ist etwas gänzlich Neues. Auf Chinas Wunschzettel stehen außerdem die Rohstoffe Grönlands.
Wie gesagt, rein operativ gedacht erscheint die Idee einer Präsenz chinesischer Schiffe oder Flugzeuge geradezu grotesk. Warum sollte China versuchen, irgendetwas an ziviler, militärischer oder beidseitig nutzbarer Hardware auf der anderen Seite der Welt inmitten eines „feindlichen Binnenmeeres“ zu stationieren? Strategisch gedacht wäre es jedoch ein Stich ins Herz der NATO. Auf Island geht es (noch?) nur um zivile, wirtschaftliche Projekte, aber würde die portugiesische Regierung den Chinesen, in welcher Form auch immer, eine permanente Präsenz auf den Azoren gestatten, wäre das ein strategisches Desaster.
Der Gegenspieler der USA im Indo-Pazifischen Raum nistet sich im Raum genau der Allianz ein, in der die USA seit 1949 den Ton angeben? Die Signalwirkung innerhalb der NATO wie nach außen wäre verheerend. Noch nie hätte sich ein der NATO nicht immer freundlich gesonnener Staat – reden wir hinter den Kulissen mal über China und Cyber-Security – auf diese Weise innerhalb des Allianzgebiets eingerichtet. Würde NATO-Europe, wie es mittlerweile im US-Jargon heißt, so eine Entwicklung durch Duldung oder Nichtstun zulassen, hätte das Ansehen von NATO-Europe in Washington wohl einen weiteren Tiefpunkt erreicht.
Manch einer mag nun denken, aber liegen dazwischen nicht Malakka, der Golf von Aden, der Suez-Kanal und Gibraltar? Die Antwort lautet: Von der Arktis her denken.
Hier wird Zukunftsmusik gespielt. Langfristig führt Chinas kürzester Weg in den Atlantik nicht mehr durch die Nadelöhre des Indischen Ozeans, sondern durch die Arktis. Bis die Nordostpassage eisfrei ist, bedarf es aber auch nicht allzu viel Fantasie für die Vorstellung, dass chinesische Schiffe nach einem Stopp im frisch eröffneten Hafen im pakistanischen Gwadar über das Horn von Afrika durch das Mittelmeer für eine Kurzvisite weiter in den Atlantik fahren. Bei der Evakuierung chinesischer Staatsbürger aus Libyen 2011 haben wir das zum ersten (und nicht zum letzten) Mal gesehen.
Quizfrage: Wo sind…
…chinesische Piloten das erste Mal von einem Flugzeugträger gestartet? Im Pazifik? Falsch. Im Südatlantik? Richtig. Brasilien hat auf seinem Träger Sao Paulo chinesische Piloten für Starts- und Landungen ausgebildet.

Chinesische Darstellung angedachter Marinebasen (Quelle)
Mit dem Start solcher Militärbeziehungen kann man davon ausgehen, dass die chinesischen Piloten und ihre brasilianischen Ausbilder Gelegenheit erhalten werden, sich und mitsamt ihrer Träger bei Hafenbesuchen und gemeinsamen Manövern eines fernen Tages mal wiederzusehen.
Das mag arg spekuliert sein oder auch nicht, aber Chinas Interesse am Südatlantik ist, bedingt etwa durch Öl aus Nigeria und Angola, nichts wirklich Neues. Namen für chinesische Marinebasen im Südatlantik werden immerhin schon offen gehandelt.
Das Interesse an den Azoren passt daher und aufgrund des weiteren Drängens Chinas nach Afrika ins Bild.
Trotz aller Spekulation: Ruhig Blut
China ist Jahre oder Jahrzehnte davon entfernt, weit ab vom eigenen Hoheitsgebiet militärische Überlegenheit herstellen zu können. Aktuell hat Chinas Militär im Ostchinesischen Meer und im Südchinesischen Meer mehr als genug Arbeit; lernt dabei mit dem Motto „Learning by Doing“ allerdings nach und nach dazu. Wir werden sehen, ob und wie weit der Konflikt mit Japan um die Diaoyu/Senkaku Inseln noch eskaliert. Ferner besteht die chinesische Marinepräsenz am Horn von Afrika seit 2008 nur, weil sie von den USA, Indien und anderen Staaten im Rahmen der Pirateriebekämpfung willkommen geheißen wird.
Was auch immer China im Atlantik tut, wird auf absehbare Zeit eine operativ-militärische Relevanz von genau null haben. Die strategischen und politischen Auswirkungen sind das wirklich interessante. In London, das ja nicht unerhebliche südatlantische Interessen hat, und in Paris wird man derlei Prozesse mit der geopolitischen Brille ganz genau verfolgen. Washington, London und Paris dürften vermutlich in Lissabon dafür sorgen, dass China nicht ins Binnenmeer und Herz der NATO sticht. Die unbekannte Variable in diesem Spiel heißt Schulden. Kauft Peking so viele portugiesische Bonds, dass Lissabon gar nicht Nein sagen kann? Oder können „die Europäer“ Portugals Abhängigkeit von den Euro-Rettungstöpfen in diesem Fall für ihre geopolitischen Ziele ausnutzen und jegliche Gedankenspiele über China und die Azoren im Keim ersticken? Wir werden sehen.
Was tun?
An Chinas Intentionen gibt es eine Menge zu zweifeln. Der wachsende Nationalismus, das Verhalten im Cyber-Space sowie das deutlich aggressivere Auftreten Chinas im Ost- und Südchinesischen Meer sprechen für sich.
Dennoch muss die Marschroute für NATO-Europe lauten: Kooperative Beziehungen statt Konfrontation. Zur Wahrheit gehört, dass die USA sowie die NATO am Horn von Afrika erfolgreich mit Chinas Marine kooperiert haben. Dies gilt es fortzusetzen und auszubauen; etwa für Pirateriebekämpfung, humanitäre Hilfe, Terrorismusbekämpfung aus See und Ähnliches. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass China seine Marine zu einem Instrument indo-pazifischer Machtprojektion entwickeln und seine Interessen im Atlantik stärker verfolgen wird.
Es besteht aber kein Grund, in Alarm- und Untergangsstimmung zu verfallen, solange heute in den Hauptstädten von NATO-Europe die richtigen geostrategischen Weichen gestellt und pragmatische Entscheidungen getroffen werden. Von Deutschland darf man dabei nichts erwarten. Auf Paris und London kommt es an.